Sehr geehrter Herr Çakır, können Sie sich uns bitte kurz vorstellen?
Zurzeit bin ich als Direktor
des Forschungszentrums für Angewandte Studien zu Türken im Ausland und als Universitätsprofessor
für deutsche Philologie und Übersetzungswissenschaft an der an der Anadolu
Universität in Eskişehir tätig. Ich studierte an der Universität Wien „Deutsche
Sprache und Österreichische Kultur“ (Dipl.), an der Anadolu Universität
Didaktik des Deutschen als Fremdsprache (BA) und Fremdsprachendidaktik (MA).
1990 promovierte ich im Fach Linguistik am Institut für germanistische
Sprachwissenschaft der Universität Wien, habilitierte 1996 und wurde 2002 zum
Universitätsprofessor berufen. Ich hatte sowohl in der Türkei als auch in den deutschsprachigen Ländern akademischen
und leiterischen Einsatz, wie z.B. Leitung der Außenstelle der Anadolu
Universität in Köln, der berufsbildendenden Hochschule zu Bozüyük und der
Hochschule für Hotel- und Tourismusmanagement. Ich
publizierte national und international zahlreiche wissenschaftliche Artikel und
Bücher und hielt Vorträge im In- u. Ausland und moderierte Radio- und
Fernsehprogramme. Ich bin Mitglied des türkischen Germanistenverbands, der Internationalen Vereinigung für
Germanistik sowie der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik. Ich trage
das Große Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich.
Neben Fremdsprachendidaktik
interessiere ich mich für Migration und Erst- bzw. Zweitspracherwerb persönlich
sehr stark. Derzeit halte ich diverse Lehrveranstaltungen
in drei verschiedenen Lehrgängen (i.e. Fremdsprachendidaktik, Linguistik und
Übersetzungswissenschaft) auf verschiedenen akademischen Niveaus, wie zum
Beispiel Bachelor, Master und Doktorat, und arbeite an diversen Projekten.
Wie ich weiß, beschäftigen Sie sich auch mit
Mehrsprachigkeit. Welche Erfahrungen haben Sie diesbezüglich gemacht?
Wie die meisten Menschen in meiner Heimat bin ich auch einsprachig
aufgewachsen. Ich hätte es auch vorteilhafter gefunden, von Jung an mehrere
Sprachen zu können, anstatt diese mir in einem späteren Alter mühsam erlernen
zu müssen. Als Kind wurde uns in der Schule Englisch als erste Fremdsprache erteilt,
aber mir brachte niemand so bei, dass ich Englisch fließend sprechen konnte. Wir
hatten auch keine Möglichkeiten gehabt, mit denjenigen, die über sehr gute
Englischkenntnisse verfügen, in Kontakt zu treten. Mir war, seit ich wusste, zu
spät, dass es andere Sprachen gibt und es auch wichtig ist, andere Sprachen zu
lernen.
Ich musste in der Türkei eine berufsbildende Sekundärschule besuchen und
dort kam ich nicht dazu, eine Fremdsprache fließend zu sprechen. Erst nach der
Schule wollte ich in Österreich auf Uni gehen, aber es hat wegen mangelnder
Fremdsprachenkenntnisse gescheitert. Ich konnte weder Englisch noch Deutsch,
ohne Sprachkenntnisse und Unterstützung durch Drittmittel gelang einem
Migrantenkind nicht, das Studium zu finanzieren. Ich kehrte deshalb in die
Türkei mit der Absicht zurück, dass ich Deutsche Philologie studieren sollte,
um in den späteren Jahren den Kindern der Migranten behilflich zu werden. Dann
habe ich angefangen, WDR zu zuhören und bemühte mich über das Serie „Familie
Baumann“ Deutsch als Fremdsprache zu lernen. Ich habe die Aufnahmeprüfung zur
Universität bestanden und an der Anadolu-Universität Deutsche Philologie
studiert.
Aus dem erlebten Beispiel ausgehend möchte ich den in Österreich lebenden
türkischstämmigen Eltern empfehlen, dass sie ihre Kinder möglichst früh darauf vorbereiten,
andere Sprachen als das Türkische zu lernen. Wenn ihnen jemandem nahe steht,
der eine andere Sprache kann oder selber eine fließend sprechen könnte, sollten
sie dem Kind ermöglichen, mit diesen Leuten in Kontakt zu treten, damit sie von
Anfang an sich motiviert fühlen, Deutsch zu erlernen und nicht erst Jahre
später, wie wir erlebt hatten. Je später ist es, umso schwieriger wird der
Erwerb einer Zweitsprache. Es wäre nur zum Vorteil, wenn man mit einer anderen
Person einer anderen Nation verständigen kann.
Ein weiteres parabelhaftes Beispiel zur Mehrsprachigkeit möchte ich zu
dieser Gelegenheit noch erzählen: Eine Kollegin an unserer Universität ist als
Türkin mit einem Deutscher verheiratet und sie haben einen Sohn. Das Kind
spricht mit der Mamma Türkisch, mit dem Vater Deutsch und die Eltern sprechen untereinander
auf Französisch, mit den Großeltern Türkisch und Deutsch, im Kindergarten und
in der Schule usw. wird Französisch gesprochen. Innerhalb der Familie werden
drei Sprachen gesprochen. Also es herrschte innerhalb der Familie teilweise
eine multilinguale Atmosphäre. Es gab fast keine Probleme beim Aufwachsen des
Kindes, jedoch musste man viel Geduld haben, bis das Kind sprechen beginnt. Das
Kind lernt im Alter von zwei Jahren wirklich nahezu spielend drei Sprachen. Den
anfänglichen Rückstand im Vokabular holen die Kinder im Laufe der Jahre meist
auf. Am Ende der Grundschulzeit lesen und schreiben diese mehrsprachigen Kinder
genauso gut, wie die Gleichaltrige aus monolingualen Familien.
Was ist Mehrsprachigkeit oder wer ist mehrsprachig?
Man kann die Mehrsprachigkeit oder "Bilingualismus", beide Begriffe verwendet man synonym, wie folgt definieren: Mehrsprachig ist, wer in mehr als einer Sprache entsprechend den spezifischen Erfordernissen kommunizieren kann und sein tägliches Leben in mehr als eine Sprache erlebt. Aus dieser Definition hinaus, bezeichnet die Mehrsprachigkeit die Fähigkeit eines Menschen, mehr als eine Sprache zu sprechen oder zu verstehen.
In wissenschaftlichen Dizsiplinen gibt es verschiedene Arten von Mehrsprachigkeit. Eine Person, die mehrere Sprachen spricht, wird als polyglott bezeichnet. Die Fähigkeit einer Person, sich in mehreren Sprachen verständigen zu können, wird als individuelle Mehrsprachigkeit definiert.
Unter institutionelle oder territoriale Mehrsprachigkeit versteht man das gleichzeitige Vorhandensein von mehreren Sprachen auf einem Territorium. Die Schweiz kann als ein mehrsprachiges Land oder ein Kindergarten, wo die Kinder verschiedener Nationen zusammen sind, als eine mehrsprachige Institution betrachtet werden.
Außerdem gibt es einen weiteren Begriff, nämlich Diglossie. Der Gebrauch einer Sprache wird auf unterschiedlichen Domänen verteilt, so spricht man beispielsweise in der Schule anders als in der Familie oder unter Freunden. Es handelt sich hier um eine funktionelle Verteilung von zwei Varietäten einer Sprache. Die Unterscheidung von Standardsprache und die Umgangssprache wäre ein Beispiel dafür.
Manche Eltern haben Angst, dass ihre Kinder weniger
erfolgreicher werden, wenn sie die Muttersprache beibehalten. Wie denken Sie
darüber?
Es ist richtig, dass manche Eltern vor Mehrsprachigkeit Angst haben, denn
lange galt Mehrsprachigkeit als Makel, aber die Befürchtung, die
Türkischkenntnisse würden unter den fremden Sprachen leiden, wird von der
Forschung nicht bestätigt, sondern die Eltern, Pädagogen und Forscher erkennen die
Vorteile der Mehrsprachigkeit.
Also, es hat nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen keinen Sinn, über
die Mehrsprachigkeit negative Gedanken zu machen. Hier möchte ich jedoch darauf
hinweisen, dass die Störungen der Sprachentwicklung bei Kindern nicht zu
vernachlässigen sind und sowohl die Eltern als auch die Erzieher die
sprachentwicklungsgestörten Kinder beobachten sollten, indem sie die Äußerungen
der Kinder miteinander vergleichen. Z.B. die Beugung der Tätigkeitswörter kann
einem Kind nicht gelingen und die Wortstellung fehlerhaft sein. Die Art der
grammatischen Fehler kann als Indiz für eine Sprachentwicklungsproblematik
dienen. Diese Sprachentwicklungsstörung, die mit der Mehrsprachigkeit nichts zu
tun hat, kann nicht nur in der Zweitsprache sondern auch in der Erstsprache
auftreten. Die diesbezüglichen wissenschaftlichen Studien belegen, dass auch
manchmal nur in der zweiten Sprache „Deutsch“ die gleichen Fehler gemacht
werden, wie beim einsprachigen Erwerb. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen
Studien zeigen außerdem, dass sprachgestörte Kinder in bilingualem Erstspracherwerb
in einigen Bereichen bessere Ergebnisse erzielen als einsprachige mit einer
Erwerbsproblematik. Hier ist die Dauer des kontinuierlichen Kontakts mit der
Zweitsprache ein besonderes Kriterium, bevor man die Indizien als
Sprachentwicklungsstörung zu identifizieren pflegt, denn die Bedeutung der
Sprachkontaktmonate macht zur Unterscheidung von normaler und gestörter
Sprachentwicklung besonders anschaulich. Mehrsprachigkeit ist in diesem
Zusammenhang kein Nachteil, sondern ein Vorteil zu betrachten.
Innerhalb der Familie soll die perfekt beherrschte Sprache, d.i. meist
Türkisch, bevorzugt werden, damit die mangelnde Sicherheit im Türkischen oder
Deutschen beseitigt wird.
Ist die Mehrsprachigkeit ein Vor- oder Nachteil für das
Kind und warum?
In Deutschland sahen einflussreiche Germanisten wie Johann Leo Weisgerber
(1899-1985) die frühe Zweisprachigkeit lange als "nachteilig für das Kind
an". Diese Zeiten sind schon vergangen und die Mehrsprachigkeit ist heute im
Trend, nicht nur bei Eltern und Pädagogen, sondern auch unter Wissenschaftlern.
Man spricht in den letzten Jahren den kognitiven Nutzen der Mehrsprachigkeit
aus. Diejenigen, die mehr als zwei Sprachen beherrschen, nennen wir einfach
mehrsprachig bzw. polyglott. Die mehrsprachigen Kinder bzw. Personen haben
nicht nur bessere Chancen im beruflichen Leben oder im Alltag der fremden
Kulturen, sondern sie können flexibler im Denken und schneller im Kopf sein.
Die Kinder in den mehrsprachigen Kindergärten haben die Möglichkeit
bestimmte Wörter und Sätze beim Essen, Spielen oder Toben das Gelernte
systematisch zu wiederholen und mit Gesten und Mimik zu unterstützen. Das, was
dort geschehen kann, gilt als erfolgreichste Lernmethode, also
Immersionskonzept. Dabei bleibt jeder Erzieher oder Erzieherin bei einer
Sprache, an der sich die Kinder orientieren. Am Ende der Kitazeit können die
Kinder Deutsch und Türkisch oder andere Sprache, die im Kindergarten gesprochen
wird, gut beherrschen, dass sie der Schule in beiden Sprachen problemlos folgen
können.
Hier möchte ich den Eltern auch noch folgendes sagen, dass die Kinder die
Wörter (Redewendungen, Tonfall, Sprache etc.) wie ein Schwamm aufsaugen,
während die Erwachsenen sich Vokabeln einhämmern müssen. Im Gegensatz zu den
Erwachsenen kennen die Kinder keine falsche Scheu, reden wie ihnen der Schnabel
gewaschen ist, haben keine Angst davor, etwas falsch zu sagen, sich eine Blöße
zu geben.
Die Welt wird in einem Kommunikationszeitalter Tag für Tag kleiner und
unter diesen Umständen sage ich schließlich, dass derjenige, der nur mit einer
Sprache aufwächst und so weiterlebt, unter seinen Himmel gesperrt bleibt. Auf
der anderen Seite muss man auch die Tatsache sehen, dass man auch in Österreich
nicht nur das akzeptieren sollte, dass das Land ein Einwanderungsland geworden
ist, sondern auch dass die Migranten in das Land andere Sprachen und
Mentalitäten mitbringen. Dieses Geschehen sollte man nur als eine Bereicherung,
nicht als Ausrottung der edelsten und heiligsten Menschengefühle, der
Familien- und Vaterlandsliebe betrachten.
Wie können die Eltern bzw. die Erzieherinnen diese fördern?
Im Alltag gibt es zahlreiche Fördermöglichkeiten für mehrsprachige Kinder,
die sich nicht einmal bewusst, dass sie im Kindergarten andersartig sind. Auch
manche Eltern sind nicht bewusst, die Mehrsprachigkeit wie ein Geschenk zu betrachten
und sie sollten nicht davon beklagen, sondern sich darüber freuen, dass die
Kinder bessere Zukunftschancen haben, als monolingualen Kinder. Früher hatte man auch in der Schulbrürokratie
eine Menge von negativen Indizien gegen mehrsprachige Kinder. Man formulierte
das Problem einfach unter der Rubrik „Nicht deutscher Herkunftssprache“. Aus
diesen heute nicht als für richtig gehaltenen Denkweisen erhielten einige
Schulen in Deutschland sogar Preise, wenn sie auf dem Pausenhof eine
„Deutschpflicht“ forderten. Diese Zeiten sind schon vorbei und nun ist diese
feste Einstellung verankert, dass 163 von 195 Nationen offiziell bi- oder
trilingual sind und die Mehrsprachigkeit begrüßenswert ist.
Ich kann den Eltern aber auch den ErzieherInnen folgende Empfehlungen machen,
um positive Einstellungen gegenüber den Sprachen, auch der Zweitsprache, zu
vermitteln, damit das Kind in einer mehrsprachigen Umgebung, wie im
Kindergarten, seine Erstsprache annimmt, freudvoll mit seinen Sprachen umgeht
und sie als Werkzeug einsetzt, um sich auszudrücken und seine Umgebung über
Sprache zu entdecken. Diese Wertschätzung gegenüber den Sprachen und Kulturen
kann sich z.B. in der Kindertagesstätte und/oder in der Familie darin zeigen,
dass:
- im Eingangsbereich in verschiedenen Sprachen ein Willkommensgruß aushängt;
- bei Unterhaltungen mit anderen Eltern in der Kita in der Umgebungssprache gesprochen wird;
- Feste und Gebräuche der verschiedenen Kulturen gemeinsam gefeiert werden;
- der Einkauf bewusst nicht auf Läden der eigenen Nationalität begrenzt bleibt;
- Kinderlieder strophenweise in anderen Sprachen gesungen werden;
- mehrsprachige Bilderbücher und –lexika bereit stehen.
Neben der Wertschätzung kann man ein weiteres Förderprinzip
verwirklichen, denn in Österreich erfolgt auch die Betreuung der Kinder zu
Hause. Um die Mehrsprachigkeit zu fördern, kann man auch die Verbindungen
zwischen den Sprachen finden. Das bedeutet dass man innerhalb der Familie nach
dem Prinzip „eine Person-eine Sprache“ bei frühem Zweitspracherwerb zuhause in
der Familiensprache, im Kindergarten in der Zweitsprache Deutsch nach den
Beispielen suchen kann. Auch die private Initiative können mehrsprachige
Kindergärten betreiben.
In den mehrsprachigen Kindergärten könnte man Leseecken für Kinderbücher einrichten,
die die Eltern auch ausleihen oder selber dem Kindergarten schenken würden.
Diese Bücher kann man zuhause oder im Kindergarten vorlesen und schließlich können
die Gelesenen kleine Gespräche veranlassen.
Würde man mit der mehrsprachigen Erziehung schon im Kindergarten
beginnen, könnte einerseits ein flächendeckender bilingualer Unterricht an den
Schulen und in jeder Jahrgangsstufen durchgeführt werden, andererseits werden
die Diskussionen Für und Wider der Integration der neueren Generationen durch
die interkulturelle Kommunikation aufgehoben.
Möchten Sie zum Schluss noch ein paar ergänzende Wörter
sagen?
Wer einmal im mehrsprachigen Bereich mit Kleinkindern zusammengearbeitet
–nicht gelernt, gedrillt, gepaukt, sondern gespielt, gesungen, geturnt,
gebastelt, gemalt, gereimt, erzählt, gekocht- hat, weiß, dass die Kleinkinder
wahre Sprachgenies sind.
Genauso wie bei einsprachigen Kindern gilt also auch bei mehrsprachigen:
Miteinander handeln, spielen und reden ist die beste Unterstützung, die geboten
werden kann. Eltern sollten sich dabei der Sprache bedienen, die ihnen am Herzen
liegt und in der sie sich zu Hause fühlen. Die Sprache der Familie zu sprechen,
ist gut, denn das bedeutet, ein Teil dieser Familie zu sein, sich mit den
Großeltern, Tanten, Neffen austauschen zu können und auch Anteil an der
Familienkultur zu haben. Integration und Zugehörigkeit sind daher die wesentlichen
und unmittelbaren Vorteile. Das muss man nicht vergessen!
Ich bedanke mich recht herzlich für das tolle Gespräch.
Gern geschehen!
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